Werbung
  • Kultur
  • 64. Eurovision Song Contest

Am Ende gewinnt die Pianoballade

Das Finale des 64. Eurovision Song Contest in Tel Aviv.

  • Kristina Kaufmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Der ESC ist der am meisten campe Musikwettbewerb der Welt, den Netta Barilai im vergangenen Jahr mit dem Song »Toy« in Lissabon gewonnen hat. Gibt es einen passenderen Ort für die überbordende Extravaganz, die absurden Shows, die großen Gesten und den Kitsch des Eurovision Song Contest als die pulsierende, queer-freundliche Partymetropole Israels?

Hier, in unmittelbarer Nähe zu einigen der beliebtesten Stränden Tel Avivs, findet vor der Kulisse eines unfassbar blauen Mittelmeers unter herrlichen Sommertemperaturen der 64. ESC statt. Unweit des extra errichteten »Eurovision Village« bräunen sich die Touristen auf dem »Jerusalem Beach«, Kamerateams und ESC-Fans tummeln sich auf der umliegenden Strandpromenade und tuscheln aufgeregt, wenn sie einen der Teilnehmer entdecken. Während in den Proben wahrscheinlich die letzten Flauschkostüme und Tanzschritte angepasst werden, posiert draußen ein in die Landesfarben eingewickelter Besucher für ein Foto in einem der offiziellen Eurovision-Rahmen. »Woher kommst du?«, fragt eine Passantin interessiert. »Griechenland«, lautet die Antwort. »Herzlich willkommen in Israel. Und viel Glück!«

Ein idyllisches Bild. Dabei vergisst man, dass Anfang des Monats der Konflikt im Gazastreifen kurz vor der Eskalation stand. Innerhalb von zwei Tagen wurden etwa 600 Raketen auf Israel abgeschossen, das mit Vergeltungsschlägen reagierte. Dabei kamen vier Israelis und 25 Palästinenser ums Leben. Danach war wieder Ruhe. Denn eigentlich will keine der beiden Seiten eine offene Auseinandersetzung. Die Palästinenser feiern derzeit den Ramadan, und Israel begeht verschiedene jüdische Feier-, Trauer- und Gedenktage: Auf Yom Hazikaron, den Unabhängigkeitstag, folgt nun der ESC. Ein Großereignis, vermeintlich unpolitisch: die Feier der Vielfalt und Einigkeit, die insbesondere in den queeren Communitys viele Anhänger hat. Und wie jedes Jahr kommen Tausende Fans an den Austragungsort für die große Sause. Für Israel ist das eine gute Gelegenheit, sich als weltoffenes, tolerantes Land und sicheres Urlaubsziel darzustellen. Klar, dass da ein schwelender Konflikt mit Gaza nicht so gut ins Bild passt.

Das weiß auch die die israelfeindliche BDS-Bewegung (»Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen«), die zum Boykott der Veranstaltung aufruft. Der israelischen Regierung unterstellt sie »Pinkwashing«: die Instrumentalisierung von queeren Events und Communitys, um ein liberales, aufgeschlossenes Image zu fördern und die politische Lage zu verschleiern. Viele LGBTQ-Communitys rund um die Welt sind diesem Aufruf gefolgt. Auch in Israel gibt es Aktivisten, die im allgemeinen Trubel um den ESC sicherstellen wollen, dass die Lebensrealität in den Palästinensergebieten nicht in Vergessenheit gerät. »Breaking the Silence«, eine Nichtregierungsorganisation, bietet den ESC-Fans zum Beispiel Touren nach Hebron an, eine der kompliziertesten Städte im Westjordanland.

Aber ist der Vorwurf des »Pinkwashing« nicht absurd? Kann ein bisschen Singen und Tanzen und Regenbogenflaggen-Schwenken wirklich von den Konflikten ablenken? Klar ist: An keinem anderen Ort in Israel ist die queere Szene so stark und lebendig wie in Tel Aviv. Hier prangt die Regenbogenflagge an Häuserwänden und Geschäften, das queere Partyleben brummt in den Bars und Clubs der Stadt, und die alljährliche »Pride-Woche« zählt Hunderttausende Teilnehmer. Tel Aviv ist international als LGBTQ-Metropole bekannt - und das nicht erst seit vergangenem Jahr, als Netta Barzilai den Eurovision Song Contest gewonnen hat.

Sicherlich ist der Eurovision für Israel eine große Chance, sich der Welt in einem guten Licht zu präsentieren. Und ja, Tel Aviv ist eine queer-positive Bubble, die mit dem Rest Israels nicht gleichzusetzen ist, aber die Gesetzeslage für die LGBTQ-Community gilt im ganzen Land, und sie ist eine der liberalsten im Nahen Osten. Wenn auch zurzeit die »Ehe für alle« noch von konservativen, meist orthodoxen Abgeordneten der Knesset blockiert wird, werden im Ausland geschlossene Ehen seit 2006 anerkannt. Laut Umfragen sind rund 70 Prozent der Israelis für die gleichgeschlechtliche Ehe, und als kürzlich im Rahmen einer Gesetzesänderung für Leihmutterschaft homosexuelle Männer diskriminiert wurden, demonstrierten Zehntausende auf den Straßen von Tel Aviv.

Der Eurovision Song Contest ist der Musikwettbewerb, in dem russische Opernsänger in überdimensionierten Schmetterlingsflügeln von der Bühne herabschweben. Wo serbische Diven in Lichtshows ihre Haare wehen lassen und Powerballaden singen. Der Eurovision Song Contest ist auch der Ort, an dem Dana International, eine israelische Sängerin, 1998 als erste Transfrau den ersten Platz belegt hat.

An diesem Samstagabend treffen in Tel Aviv das antikapitalistische BDSM-inspirierte Techno-Performance-Kollektiv Harari aus Island mit ihren apokalyptischen Har-nessen auf den französisch-marokkanischen Social-Media-Star Bilal Hassani und seine queere Hymne über Selbstakzeptanz, während die australische Kandidatin Kate Miller-Heidke auf einer Plattform sozusagen »am Stiel« performt und sich das slowenische Duo Zala Kralj und Gašper Šantl im Stil der introvertierten Indie-Band The XX zwar süß, aber auch etwas blutleer anschmachtet. Auf der Bühne vereinen sich für einen Abend alle möglichen Facetten von queerer und nicht-queerer Kultur, Freaks, Progressive, Mutlose (hi, Deutschland), Konventionelle, Diven, Exaltierte… Am Ende gewinnt wahrscheinlich der Typ mit der Pianoballade. Aber zwischendrin bleibt jede Menge Platz für Utopie und Freude am fragwürdigen Geschmack.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal